„Nachhaltigkeit ist eine integrale Aufgabe“
Im Interview mit Sportplatzwelt spricht Michael Jäger, Leiter der Gruppe Nachhaltiges Bauen am Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP, über die zukünftigen Ansprüche an nachhaltige Baukonzepte im städtebaulichen Kontext.
Jäger: Der Fokus muss künftig noch viel stärker auf einer intelligenten Nutzung des Bestands und dessen zukunftsfähiger Sanierung liegen als auf Neubau. Der Bestand bietet für die notwendige Bauwende noch viel Potenzial, das noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Bislang werden für den Neubau knappe Ressourcen benötigt, die ein klimaneutraler Betrieb im Anschluss nicht zwingend ausgleichen kann. Der Neubau auf der grünen Wiese hat eine unerwünschte Versiegelung zur Folge und führt zu einem immensen Flächenverbrauch. Auch der Abriss und anschließende Neubau ist mit einem hohen Ressourcenverbrauch sowie mit hohen Treibhausgasemissionen verbunden.
Generalsanierungen werden in Zukunft effizienter und auch kostengünstiger durchzuführen sein, sodass Neubauvorhaben in Zukunft kritischer zu hinterfragen sind. Aufgrund des demografischen Wandels ist sicherzustellen, dass die vorhandenen Kapazitäten besser genutzt werden und ein Rückbau von nicht mehr benötigten Gebäuden ebenfalls ein Aspekt des verantwortungsvollen Umgangs mit dem Bestand sein kann. Es muss jeweils der Einzelfall geprüft werden und die Alternativen in Hinblick auf deren Nachhaltigkeits-Wirkungen bewertet werden. Hierfür eignen sich lebenszyklus-orientierte Analysen unterschiedlicher Szenarien auf Basis von Ökobilanzen.
Dieses Interview ist auch im neuen Kompendium Nachhaltigkeit erschienen.
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Sportplatzwelt: Welchen Stellenwert nehmen nachhaltige Bauprodukte und -materialien in der Nachhaltigkeitsperformance eines Gebäudes ein? Welche weiteren wesentlichen Einflussfaktoren gibt es?
Jäger: Während es lange ausreichte, den Energiebedarf eines Gebäudes, welcher für Heizen, Kühlen und den Betrieb erforderlich ist, drastisch zu reduzieren, so muss heute der gesamte Lebenszyklus eines Gebäudes in den Blick genommen werden.
Die negativen Umweltauswirkungen, die beispielsweise zum Treibhauseffekt und damit zur Klimaerwärmung beitragen, werden vor allem durch die Herstellung von Baumaterial und Bauprodukten verursacht.
Je energieeffizienter ein Gebäude in der Nutzungsphase ist, desto bedeutender wird der CO2-Anteil oder der Anteil weiterer Umweltwirkungen, der durch dessen Herstellung und vor allem am Lebensende anfällt.
Dieser Anteil am Lebenszyklus wird maßgeblich durch Bauprodukte verursacht. Eine Auswahl von Bauprodukten mit einer möglichst guten Ökobilanz sowie einer langen Lebensdauer ist damit eine der größten Stellschrauben für die Realisierung nachhaltiger Gebäude und Bauwerke. Durch Wiederverwendung und durch den Einsatz von recyceltem Material in Bauprodukten kann dessen Ökobilanz signifikant verbessert werden.
Sportplatzwelt: Warum ist es oft nicht ausreichend, nur die Ökobilanz von Baumaterialien und -produkten im Auge zu behalten? Welchen Stellenwert nehmen der spätere, ressourcenschonende Betrieb sowie im Vorfeld bereits die Standortwahl in frühen Planungsphasen ein?
Jäger: Ziel muss sein, die negativen Umweltauswirkungen in allen Lebenszyklusphasen gering zu halten. Bezogen auf die CO2-Emissionen bedeutet das einen klimaneutralen oder klimapositiven Gebäudebetrieb.
Letzteres bedeutet, dass ein Gebäude durch erneuerbare Energien mehr Energie selbst erzeugt, z. B. durch PV und Solarthermie, als dieses selbst benötigt. In Summe muss Klimaneutralität über den gesamten Lebenszyklus angestrebt werden.
Der Klimawandel ist nicht die einzige Kategorie, die berücksichtigt werden muss, wenn man die Nachhaltigkeit eines Gebäudes betrachtet. Da Ressourcen nicht endlos verfügbar sind, spielt auch die Inanspruchnahme erneuerbarer und nicht erneuerbarer Ressourcen eine große Rolle. Auch die Frage, ob bei der Ressourcenentnahme oder durch die Standortwahl negative Auswirkungen auf die lokale oder regionale Biodiversität entstehen, wird künftig eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen wie heute der Klimawandel.
Sportplatzwelt: Ist – vorzugsweise bei öffentlichen Bauprojekten wie z. B. Sporthallen – die Betrachtung einzelner Gebäude überhaupt noch zeitgemäß? Inwieweit muss nachhaltiges Bauen künftig in einem umfassenderen städtebaulichen Kontext betrachtet werden?
Jäger: Die Summe ist bekanntlich mehr als die Anzahl ihrer Teile. Dies trifft auch auf die gebaute Umwelt zu. Eine Aneinanderreihung nachhaltiger Einzellösungen führt nicht zwangsläufig zu einer optimalen Gesamtlösung, Allerdings lassen sich nachhaltige Lösungen auf Gebäudeebene am einfachsten umsetzen, weil hierfür praktikable Planungsinstrumente und Bewertungssysteme etabliert sind.
Nachhaltigkeit ist eine integrale Aufgabe, der sich Planer und Architekten, aber auch Bauherren stellen müssen. Softwarelösungen wie z. B. GENERIS®, eine Ökobilanzierungs-Software aus dem Fraunhofer IBP, ermöglichen es Planern, bereits in frühen Planungsphasen die Ökobilanz eines Bauprojektes zu optimieren.
In den meisten Fällen erfolgt die Erneuerung urbaner Strukturen durch einzelne Objekte. D. h. jedes einzelne Gebäude muss seinen nachhaltigen Beitrag dazu leisten, sich in den Quartierskontext einzufügen. Insbesondere öffentlichen Bauprojekten kommt eine besondere Verantwortung zu, da sie für Kommunen und die öffentliche Wahrnehmung Vorbildcharakter haben und einen wichtigen Beitrag zu kommunalen Klimazielen leisten. Jedes Gebäude trägt seinen Anteil an einem nachhaltigen städtebaulichen Konzept und erfüllt z. B. auch Funktionen der Stadtbauphysik. Die positive Beeinflussung des städtischen Mikroklimas wie eine Abmilderung von Hitzeinseln in heißen Wetterphasen kann durch intelligente Gebäude realisiert werden.
Sportplatzwelt: Welchen Stellenwert nehmen hierbei Mobilität und Verkehrsanbindung ein? Inwiefern sollten nachhaltige, kommunale Sportstättenprojekte immer auch mit Blick auf eine entsprechende Verkehrsinfrastruktur (z. B. ÖPNV, Radwege, E-Mobilität) geplant werden – oder spielen solche Überlegungen erst ab einer gewissen Größenordnung eine Rolle?
Jäger: Neben dem Bausektor ist der Mobilitätsbereich ein Bereich, der grundlegend transformiert werden muss, um die Klimaziele zu erreichen. Insofern müssen zeitgemäße Mobilitätskonzepte anders gestaltet werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Der motorisierte Individualverkehr kann nicht mehr der maßgebliche Verkehrsträger sein, wenn es darum geht, klimafreundliche Sportstätten zu errichten. Zertifizierungssysteme wie z. B. DGNB integrieren Mobilitätskonzepte in die Gebäudebewertung. Der Baubereich und der Mobilitätsbereich müssen als Gesamtsystem funktionieren.
Gerade der verantwortungsvolle Umgang mit Flächen und Flächenversiegelung erfordert, dass möglichst wenig Flächen für Parkplätze vorgehalten werden. Eine gute Anbindung zum ÖPNV oder eine gute Fahrradinfrastruktur zu einer Sportstätte tragen dazu bei, dass eine Nutzung mit minimalen negativen Umweltauswirkungen und einem minimalen Flächenverbrauch möglich wird.
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Titel: KOMPENDIUM NACHHALTIGKEIT
Veröffentlichungsdatum: April 2023
Autor: Stadionwelt / Sportplatzwelt
Sprache: Deutsch
Format: DIN A4
Umfang: 148 Seiten
(Sportplatzwelt, 03.05.2023)