„Barrierefreiheit geht weit über bauliche Maßnahmen hinaus“

Im Interview spricht Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch, über die Barrierefreiheit in der deutschen Sportstättenlandschaft, Fördermöglichkeiten für inklusive Baumaßnahmen und die Bedeutung des Sports für die Inklusion.

Christina Marx
Christina Marx Bild: Aktion Mensch
Sportplatzwelt: Wie bewerten Sie die Barrierefreiheit in der deutschen Sportstättenlandschaft allgemein? Wie hat sich die Situation in den vergangenen Jahren entwickelt? Wo besteht dringender Nachholbedarf?
Marx: Insbesondere seit der WM 2006 mit ihren vielen Stadion-Neubauten beobachten wir in diesem Bereich eine positive Entwicklung. Blickt man auf die Infrastruktur der Sportstätten lässt sich tendenziell sagen: je neuer ein Stadion, desto besser die Umsetzung von Barrierefreiheit. Trotzdem gibt es hier nach wie vor Verbesserungsbedarf, denn der Anteil an barrierefreien Plätzen und inklusiven Angeboten deckt auch bei Neubauten den vorliegenden Bedarf noch immer nicht ausreichend. Blickt man vom Profi- in den Breitensport sieht die Situation noch schlechter aus. Viele Sportstätten sind schon älter, teilweise in einem schlechten Zustand und dementsprechend auch nicht barrierefrei. Gemeinsam mit unseren Partnern – der DFL und DFL Stiftung, aber auch dem Deutschen Behindertensportverband und dem Deutschen Olympischen Sportbund – sensibilisieren wir seit Jahren erfolgreich für mehr Inklusion bei Sportangeboten und -stätten.

Über die Aktion Mensch e.V.

Die Aktion Mensch e.V. ist die größte private Förderorganisation im sozialen Bereich in Deutschland. Seit ihrer Gründung im Jahr 1964 hat sie mehr als vier Milliarden Euro an soziale Projekte weitergegeben. Ziel der Aktion Mensch ist, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, Kindern und Jugendlichen zu verbessern und das selbstverständliche Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Mit den Einnahmen aus ihrer Lotterie unterstützt die Aktion Mensch jeden Monat bis zu 1.000 Projekte. Möglich machen dies rund vier Millionen Lotterieteilnehmer*innen. Zu den Mitgliedern gehören: ZDF, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie, Paritätischer Gesamtverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit Anfang 2014 ist Rudi Cerne ehrenamtlicher Botschafter der Aktion Mensch.

Sportplatzwelt: Ist es ausreichend, wenn sich Bauherren innerhalb der gesetzlichen Vorgaben bewegen, oder sollte in bestimmten Bereichen ein besonderes Augenmerk auf barrierefreie Baumaßnahmen gelegt werden, die über die Anforderungen des Gesetzgebers hinausgehen?
Marx: Grundsätzlich sollten Sportstätten für alle Menschen gleichermaßen und ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sein. Das Ziel der Betreiber*innen sollte sein, ihren Fans die Möglichkeit zu bieten, den Sport live und vor Ort zu erleben. Wenn das gegeben ist, ist Inklusion Realität. Dabei gilt es zu betonen, dass Barrierefreiheit allen Menschen nützt: ob mit oder ohne Behinderung, Senior*innen, Eltern mit Kinderwagen oder Menschen, die nur vorübergehend in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Viele Vereine bieten etwa über ihre ehrenamtlichen Behindertenfanbeauftragten tolle Angebote an, zu denen sie nicht verpflichtet sind. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Blindenreportage. Zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt und der DFL fördern wir das Projekt T-OHR – Sehbehinderten und Blindenreportage im Fußball. Im Rahmen dieses in Europa einzigartigen Projekts werden seit rund sieben Jahren Reporter*innen für die speziellen Anforderungen der Blindenreprotage geschult. Für einzelne Vereine haben wir auch die technische Ausstattung zur Umsetzung der Reportage im Stadion gefördert. Das Angebot ist in den Stadien der Bundesliga und 2. Bundesliga mittlerweile Standard und wird auch zunehmend bei weiteren Sportarten sowie bei kulturellen Veranstaltungen angeboten.

Sportplatzwelt: Welchen Stellenwert nehmen Sportvereine beim Thema Inklusion ein?
Marx: Freizeit- und Breitensport sind für Inklusion sehr wichtig – denn ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung entsteht durch Begegnung. Der Sport mit seinem verbindenden Charakter schafft diese Begegnung und führt Menschen zusammen. Sportvereine sind entsprechend ein wesentlicher Treiber von Inklusion in unserer Gesellschaft und Vorbild für viele andere Lebensbereiche. Im Bereich des Profisports ist auch die breite Öffentlichkeit, die er erreicht, ein wesentliches Element, um Aufmerksamkeit für Inklusion zu schaffen. So haben wir beispielsweise in der Vergangenheit gemeinsam mit der DFL-Stiftung und den Vereinen 1. FC Köln, RB Leipzig, Werder Bremen oder Hertha BSC Berlin Spieltage der Fußballbundesliga genutzt, um unter dem Motto „Gemeinsam für Inklusion“ zu zeigen, welche vielfältigen Teilhabemöglichkeiten es im Rahmen eines Spieltages gibt. Bei diesen Aktionstagen wurden viele Maßnahmen und Kooperationen entwickelt, die bis heute Bestand haben. Zum Beispiel Arbeitsplätze innerhalb der Sportstätten für Menschen mit Behinderung oder „Einlaufkinder“ mit und ohne Behinderung in der Bundesliga.

Sportplatzwelt: Mit welchen Förderprogrammen und Unterstützungsleistungen leistet die Aktion Mensch ihren Beitrag zur Verbesserung der Barrierefreiheit in Sportstätten?
Marx: Mit ihren vielfältigen Förderprogrammen adressiert die Aktion Mensch freie, gemeinnützige Organisationen mit Sitz in Deutschland – das inkludiert natürlich auch Betreiber*innen von Sportstätten, auf die diese Kriterien zutreffen. Wir unterstützen beispielsweise in Bezug auf Umbaumaßnahmen im Bereich baulicher Barrierefreiheit, etwa durch die Bezuschussung von Kosten für Rampen, Lifte oder barrierefreie Toiletten. Auch eine Förderung von Fahrzeugen ist möglich, die für das Realisieren inklusiver Sportangebote eingesetzt werden – genauso wie natürlich eine Förderung der inklusiven Sportprojekte selbst. Darüber hinaus tauschen wir uns auch regelmäßig mit der Bundesliga-Stiftung und der DFL über die Umsetzung von Barrierefreiheit aus, die diese dann an die Vereine weitergeben.

Sportplatzwelt: Mit dem Programm #1BarriereWeniger hat die Aktion Mensch eine „etwas andere Förderaktion“ in die Wege geleitet. Wie funktioniert diese Förderkampagne und inwiefern können kommunale bzw. vereinseigene Sportstätten von dem Programm profitieren?
Marx: Das Ziel der Förderaktion #1BarriereWeniger ist es, den öffentlichen Raum barrierefreier zu machen. Das kann zum Beispiel mit einer Rampe für die Bäckerei vor Ort sein, einem Blindenleitsystem im Stadthaus – oder eben in und an den Sportstätten. Für die Beseitigung von 2.000 Barrieren stellen wir im ersten Aktionsjahr insgesamt 10 Millionen Euro zur Verfügung. Finanziell unterstützt werden Ideen für Barrierefreiheit, die von gemeinnützigen Vereinen und Organisationen in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Privatwirtschaft oder öffentlich-rechtlichen Institutionen umgesetzt werden. Dabei können nicht nur Vereine und Einrichtungen selbst aktiv werden, wenn ihnen Barrieren in ihrem Umfeld auffallen. Anbieter aus der Privatwirtschaft oder aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich können ebenfalls die Initiative ergreifen und gemeinsam mit einem gemeinnützigen Partner Barrieren aller Art beseitigen. Auch Privatpersonen, die in ihrem Alltag auf Barrieren stoßen, können diese bei Vereinen in der Nachbarschaft für die Förderaktion vorschlagen.

Sportplatzwelt: Inklusion beschränkt sich nicht nur auf bauliche Maßnahmen. Woran sollten Vereine und Kommunen beim Betrieb einer behindertengerechten Sportstätte unbedingt denken?
Marx: Barrierefreiheit wird oft mit Rampen, Aufzügen oder barrierefreien Eingängen gleichgesetzt – doch sie reicht weit über bauliche Maßnahmen hinaus. Genauso wichtig ist die Umsetzung von Barrierefreiheit auch bei kommunikativen oder technologischen Barrieren. Angefangen bei der barrierefreien Gestaltung der Homepage des Vereins, sowie die Übersetzung in Leichte Sprache oder Einfache Sprache, bis hin zu Gebärdensprachdolmetscher*innen, die im Block die Durchsagen der Stadionsprecher*innen übersetzen, verfügbare Informationen in Brailleschrift, sowie die digitale Barrierefreiheit bei Videos. So haben wir etwa den VfL Wolfsburg bei der barrierefreien Gestaltung der Vereinshomepage und -kommunikation beraten. Außerdem haben wir gemeinsam mit der DFL-Stiftung den Bundesliga-Reiseführer „Barrierefrei ins Stadion“ entwickelt. Unter www.barrierefrei-ins-stadion.de finden Fußballfans unter anderem Informationen zur barrierefreien An- und Abreise, zum Stadion, zu Ansprechpartner*innen und Sitzplätzen. All diese Maßnahmen machen eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung bei der Alltags- und Freizeitgestaltung überhaupt erst möglich.

Sportplatzwelt: Welche Maßnahmen kann jeder einzelne Verein ergreifen, um die Inklusion in allen Bereichen des Vereinslebens zu verbessern?
Marx: Jeder Verein, egal welcher Größe oder Ausrichtung, kann für ein offenes und gleichberechtigtes Miteinander aller Sportler*innen, Fans, Angestellten oder ehrenamtlichen Unterstützer*innen einstehen. Dies kann durch viele verschiedene Maßnahmen unterstützt werden: von der Initiierung inklusiver Teams oder die entsprechende Qualifizierung von Trainer*innen über die Gewährleistung von Barrierefreiheit bis hin zum Schaffen inklusiver Arbeitsplätze. (Sportplatzwelt, 10.08.2021)

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